Ohne das leidenschaftliche Engagement von Pflegekräften würde das System der Pflege überhaupt nicht mehr funktionieren. Diesen Eindruck haben Politiker aus Bund, Land und Kreis gewonnen, als sie auf Einladung der Kreisarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege Pflegekräfte bei ihrer morgendlichen Tour zu den Patienten begleitet haben.
Für den Bundestagsabgeordneten Bernd Westphal (SPD) ist das erlebte Vertrauen der Patienten in die Pflegekräfte beeindruckend. Eine aufschlussreiche Tour war es auch für den Bundestagskollegen Ottmar von Holtz (Bündnis90/Die Grünen), „auch wenn ich nur ‚Pflege light‘ erlebt habe.“ Interessante Eindrücke von seiner Tour nimmt auch Lars Leopold, Landesvorsitzender der Linken und Mitglied des Hildesheimer Kreistages mit. So habe die Pflegefachkraft den Weg zwischen den Patienten fast im Laufschritt absolviert, um Zeit für die Gespräche zu schinden: „Ich bin fasziniert, mit welchem Herzblut sie ihren Job machen“, betont Leopold. Ganz praktische Fragen hat Volker Senftleben, Landtagsabgeordneter der SPD, nach der Tour: „Was ist beispielsweise mit Toilettengänge? Hier fehlt es an entsprechenden ‚Rüstzeiten‘“.
Wie wichtig das Thema Pflege den Politikern ist, zeigt auch die Resonanz auf die Einladung der Pflegeanbieter. Nicht alle Eingeladenen konnten zum vorgesehenen Termin: „Es drückt sich aber keiner. Die Touren werden zu anderen Zeiten stattfinden“, berichtet Sandra Gruse, Geschäftsführerin des Arbeiter-Samariter-Bundes Hildesheim/Hameln-Pyrmont. Nach den Touren kommen die Politiker mit den Pflegefachkräften und den Geschäftsführern ins Gespräch über die Probleme der Pflege.
„Die Situation der Pflege ist ernst bis dramatisch. Sie folgt einem strengen Zeitraster, aber die Minuten werden nicht entsprechend vergütet“, sagt Sven Schumacher, Geschäftsführer des Christophorusstiftes. Die Versorgung von Pflegebedürftigen sei auf Dauer stark gefährdet, weil sie nicht entsprechend refinanziert werde. „Wir stehen eigentlich erst am Anfang.“
Die Tour mit 14 Patientenbesuchen, die Westphal begleitet hat, habe der Caritas rund 16 Euro Verlust eingebracht, berichtet Dr. John G. Coughlan, Geschäftsführer des Caritasverbandes für Stadt und Landkreis: „Bei neun solchen Touren pro Tag wird deutlich, wie viel Geld wir drauflegen.“ Coughlan, der jüngst mit der Entlassung von Mitarbeitern und dem Einstellen der Pflege in einigen Dörfern eine bittere Erfahrung machen musste, befürchtet, dass es spätestens in zehn Jahren auf den Dörfern keine ambulante Pflege mehr geben werde.
Dabei liegt es nicht an den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern: „Sie gehen mit viele Liebe und Leidenschaft an ihre Arbeit“, bekräftigt Elisabeth Focken, Geschäftsführerin des Wohlfahrtsverbands „Der Paritätische Hildesheim“. Doch die Pflegekräfte müssten die Arbeit von 100 Minuten in 60 Minuten schaffen.
„Niedersachsen steht bei der Refinanzierung der Pflege deutlich schlechter da als andere Bundesländer“, ergänzt Gruse. Die Verbände der freien Wohlfahrtspflege weisen seit längeren auf solche Probleme hin, doch in den Vergütungsverhandlungen gehen Pflege- und Krankenkassen darauf nicht ein.
„Wir laufen auf einen Pflegenotstand zu und müssen dringend etwas ändern“, sagt Westphal. Durch die Selbstverwaltung und die Ausrichtung auf den Wettbewerb gebe es keine demokratische Kontrolle und strukturelle Fehlentwicklungen. „Wenn ein Arzt etwas verordnet, darf die Kasse es nicht ablehnen“, erklärt der Bundestagsabgeordnete. Volker Senftleben sieht sich und seine Kollegen aus der Politik in der Pflicht, wieder stärker Steuerungsfunktionen zu übernehmen: „Ich scheue da auch nicht den Konflikt.“ Bereiche wie Pflege oder Bildung dürfen nicht marktwirtschaftlich betrachtet werden, fordert Leopold und spricht von einem „ruinösen Wettbewerb“. Soziale Berufe seien gewünscht und erforderlich, aber sie müssen auch bezahlt werden, sagt von Holtz: „Wir kommen nicht darum herum, über das Geld zu reden.“
Weiterreden wollen Politiker und Geschäftsführer auf jeden Fall, denn eine einfache Lösung ist nicht in Sicht. Einig sind sich alle, dass das Zeitspiel der Kassen zulasten der Menschen, die Hilfe benötigen, als auch der Mitarbeiter geht.
Und der Wunsch der Pflegekräfte? Ihnen ist wichtig, dass Menschen nicht durchs Raster fallen und alle versorgt werden können. Auch bessere Arbeitsbedingungen und mehr Kolleginnen und Kollegen stehen ganz oben auf ihrer Liste. Dafür sind eine angemessene Bezahlung und die Refinanzierung ihrer Arbeit erforderlich. Der regelmäßige Streit mit den Kassen um notwendige Verordnungen für die Patienten gehört allerdings nicht dazu: „Wir wollen zum Patienten gehen und ihn rundum gut versorgen können, damit wir beruhigt wieder gehen können“, fasst es Pflegefachkraft Sven Lehmann zusammen.